Hokus Pokus Verschwindibus

„Es gibt eigentlich gar keine Amnesie“, behaupten die Autor:innen des Artikels im Psychotherapeutenjournal 1/25.
Es sei bloß phobisches Vermeiden von Gedächtnisinhalten – weil Trauma.
Alltagsamnesien kommen darin gar nicht vor.
Weil ich also 1+1 zusammenzählen kann, wenn ich ‚da‘ bin, kann man die dissoziative Amnesie angeblich nicht objektiv nachweisen.
Das Hirn funktioniert ja. Also existiert sie nicht – und muss umgedeutet werden.

Das Umdeuten kommt als Docsplaining daher.
Fachautorität und „messbare Ergebnisse“ werden über die Lebensrealität und die Erfahrungskompetenz von Betroffenen gestellt.
Menschen wie wir, die mit der „Störung“ leben, bekommen erklärt, was wir angeblich erleben
und auf welche Weise wir es erleben.
Das ist ein Machtgefüge. Eine „Ich erklär dir deine Welt“- Gewalt.
Das alles hat meiner Meinung nach nichts in der Wissenschaft verloren, ist aber gang und gebe.

Wem dürfen wir unsere Welt erklären?
Wer nimmt uns ernst?

Es folgen drei Beispiele.

Tach, ich bin Somalia. Ich bin eine Identität der Nirik.
In den letzten acht Jahren war ich zweimal für ungefähr drei Jahre nicht da. Ich habe in dieser Zeit nichts, aber auch wirklich nichts von unserem Leben mitbekommen. In der Zeit sind andere von
uns sogar umgezogen. Ich wachte in einer vollkommen fremden Wohnung in einer anderen Stadt auf.

Ich erkannte ein paar der Möbel wieder. Ich wusste aber nicht mal wo die Toilette ist oder in welchem Schrank ich ein Glas zum Trinken finde. Ich musste ALLES durchsuchen.
Die gesamte Umgebung ist fremd, und da steht ein rosanes Sofa. Ich HASSE rosa.
Mir geht langsam auf, dass ich Zeit verpasst habe. Wie viel? Ist unser Ehemann noch da?
Sind wir noch mit unseren Freunden befreundet? Haben wir noch unsere Therapeutin?

Keine Ahnung, wann genau ich abgetaucht bin, aber das letzte Mal stand da noch das Jahr 2016.
Jetzt ist es 2019. Und innerhab kürzester Zeit schon 2024.
Aber nein, Amnesien? Sowas gibt es doch nicht.
Lässt sich nicht beweisen.
Heißt das also: Ich lüge?
Ein bisschen Wissenstransfer gab es später, ja. Aber wenn ich hier sitze und versuche, mich
an diese 2x3 Jahre zu erinnern… ist da nichts.

Hallo, ich bin Franzi.
Als ich noch zur Schule ging, war alles ganz schön schwer für mich.
Ständig konnte ich mich nicht erinnern, was passiert war. Ich stand vor der Klassentür während
der Unterricht lief. Aber warum? War ich zum Klo? Oder musste ich noch? War ich rausgeflogen?
Soll ich wieder rein oder darf ich gar nicht?
Nur ein Blinzeln später stehe ich umgezogen in der Turnhalle zum Sportunterricht.

Und bin mal wieder die letzte, die in eine Mannschaft gewählt wird. Einmal blinzeln und ich stehe im Matheunterricht
an der Tafel und weiß nicht, was man gerade von mir will. Alle lachen mich aus.

Dann müssen wohl Ferien gewesen sein. Ich wachte in einer Hängematte in der Sonne auf.
In einem fremden Land. Ich hatte gar nicht gewusst, dass wir in den Urlaub fliegen wollten.
Und jetzt wusste ich nicht, wo meine Mutter ist und wo unsere Zimmer.
Einmal blinzeln später sitze ich schon wieder in der Schule an meinem Tisch.
Aber nein, ich habe den Urlaub nicht geträumt. Es gibt Fotos davon, wie ich am Strand bin, wie ich
Parasailing mache. Ich erinnere mich an nichts davon.
Aber Amnesien?
Sowas gibt es doch gar nicht in echt, sagen sie.

Hallo, ich bin Jes. Ich erinnere mich an eine der prägnantesten Situationen in denen mir klar wurde, dass ich “Zeit verliere”.

Ich war zuhause und war gerade dabei, mich zu entscheiden, was ich als nächstes im Haushalt tun muss. Ich setzte mich kurz auf die Couch. Den nächsten Augenblick, den ich wahrnehme… tja da stehe ich mitten in der Fußgängerzone der nächstgelegenen Großstadt und habe gefüllte Einkaufstüten in der Hand. Ich war “shoppen” und habe davon nichts mitbekommen. Also war jemand von uns shoppen. Ich wusste nicht, wie ich in die Stadt gekommen war, ich wusste nicht, ob “ich” mit dem Auto gefahren bin oder mit dem Zug. Und wenn, wo parkt das Auto? Mir fehlen mehrere Stunden. In der Fachsprache nennt man das Fugue-Episode.

Auch über derartige Amnesien spricht in dem Artikel leider niemand. Ich habe das Gefühl, dass man mir darin unterstellt, dass ich selbst schuld am Erinnerungsverlust bin - weil ich meine eigentlichen kognitiven Möglichkeiten nicht nutze.

Wenn es besser ist, schmerzhafte Dinge zu vergessen, wie die Docsplainer sagen, warum erinneren wir beide uns nicht an die schönen Dinge, sondern eher an die schmerzhaften und verwirrenden?
Ich, Franzi, bin der Definition nach früher eine ANP gewesen. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich je von meiner Mutter in den Arm genommen wurde. Nicht daran, dass ich je etwas oder mit jemandem gespielt hätte.
Ich erinnere mich an Mobbing und Traurigkeit und Suizidalität. Mein Alltag. Ich weiß, was Somalia über meinen Vater sagt. Ich erinnere mich daran nicht. Aber ich glaube ihr.
Ich, Somalia erinnere mich nicht an Schule, nur ein ganz kleines bisschen. Aber ich erinnere mich leider ZU gut daran, wie mein Daddy mich gefickt hat. Aha, ja ganz klar. Ich vermeide mein Trauma. /s
Andere von uns erinnern sich ebenfalls nur an Trauma, an Folter, an nasskalte Keller aber nicht an einen schönen Alltag.
Aha. Ganz klar, Vermeidung. /s

Der Plan, der uns zur Behandlung unterbreitet wird, klingt in etwa so: Wir sprechen in der Therapie nur mit denen (ANP), die so begrenzte Erinnerungen haben, dass alles nicht so schlimm wirkt.
Unser Kopfradio singt in diesem Moment: “Das bisschen Trauma heilt sich von allein, sagt mein Doc.”

Aber es werden auch Methoden vorgeschlagen, die das Trauma-Modell als Ursache für eine DIS komplett ausblenden und nur soziokognitive Ansätze vorschlagen und diese dann mit reiner Emotions- und Verhaltenskontrolle behandelt sehen möchten.
Die Theralandschaft arbeitet dann also mit den „gesunden Anteilen“, denen sie vorwerfen, dass diese die Traumata nur vermeiden, schlagen aber im gleichen Atemzug vor, dass eine ANP „die anderen Anteile verabschieden soll“ oder behandeln mit Methoden, die gar nicht erst ein Trauma in Betracht ziehen.

Hokus Pukus Verschwindibus.

Die Anteile, die das Trauma tragen und erlebt haben, sollen verschwinden oder zumindest für immer schweigen und so tun als gäbe es sie nicht. Sie werden nicht angehört, sie sollen in der Therapie ignoriert werden.
Wer vermeidet denn jetzt das Trauma phobisch? Du, Doc, oder wir?
Wir, die Anteile, die überlebt haben, werden nicht mehr „gebraucht“ behauptet ihr.
Was aber, wenn das Trauma anhält? Was, wenn es mehr als eine ANP gibt?
Egal. Wir sind… zu teuer…
Wir brauchen zu viel Zeit in der Therapie. Wir sind zu traumatisiert, zu wütend, zu störend.
„HEILE SCHNELLER!“, ist die Devise. Und angblich ja sogar zu unserem Besten denn Zeit ist Geld und gute Plätze sind rar.
Mit Macht und Kontrolle und ja, der Suggestion, dass es möglich sei, sich „einfach von Anteilen zu verabschieden und dann hören diese schon auf zu existieren“, wird versucht eine „Therapie“ zu gestalten.
Und das soll heilsam sein?

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Offener Brief, Psychotherapeuten-journal